Los 481 unserer Auktion 48 am 28. April 2018
Die Hauptwache (Straßenszene mit Gepäckmann). Öl auf festem Karton. Um 1930. 100,8 x 75,3 cm. Gerahmt.
Fittkau 3.9
Vom Vorbesitzer aus dem Nachlass des Künstlers erworben.
Abgebildet in: Aus der Meisterklasse Max Beckmanns. Frankfurt am Main, 1822-Stiftung, 2000, S. 16.
Straßenszenen und Stadtansichten, die das facettenreiche Arbeits- und Alltagsleben der Menschen schildern, gehörten zu den beliebtesten Sujets der 20er und 30er Jahre. In ihnen manifestiert sich die zunehmende Verstädterung und Technisierung, die Vermassung und mitunter die Verrohung der Gesellschaft. Den rasanten technischen und gesellschaftlichen Wandel, den die deutschen Bürger während der Weimarer Republik erfuhren, hält auch Karl Tratt in seinem Gemälde “Die Hauptwache” fest. Vor der städtischen Kulisse Frankfurts stellt er eine dicht gedrängte Gruppe von Menschen dar. Das Bildgeschehen ist dabei so nah an den Betrachter herangerückt, dass sich dieser kaum verwehren kann, in den Sog des geschäftigen Treibens hineingezogen zu werden. Das Gefühl der Beengtheit wird noch gesteigert, indem Tratt die Personen treppenartig hintereinander staffelt. Jede der Figuren ist in eine andere Richtung gewandt. Obgleich eine große physische Nähe zwischen ihnen besteht, erscheint doch jede Person für sich isoliert.
In den 20er Jahren lebten bereits zwei Drittel der deutschen Bevölkerung in Städten, in großer Zahl auf kleinem Raum, anonymer als in ländlichen Gegenden. Zudem hatte sich eine weitere soziale Schicht gebildet: Die Angestellten, die ihre Arbeit in den Büros der Banken, Versicherungen und Behörden verrichteten. Eben diese lassen sich neben dem titelgebenden Gepäckmann, dem Chauffeur und den flanierenden Damen auch in Tratts Gemälde wiederfinden. Überhaupt spielt das Thema Bewegung, Dynamik und stetiger Wandel eine wiederkehrende Rolle in Tratts Gemälde. Nicht allein die Figuren scheinen in alle Richtungen auszuschwärmen, auch die verschiedenen Fortbewegungsmittel – Fahrrad, Automobil und elektrische Straßenbahn – verweisen auf stetige Bewegung und Veränderung als Zeichen der Modernität.
Die Erfahrung der Großstadt schildert Rudolf Schlichter in seinem Aquarell “Hausvogteiplatz” auf ganz ähnliche Weise. Beide Arbeiten weisen sowohl in Motivik als auch in der Komposition deutliche Parallelen auf und bezeichnen ein markantes Gesicht der modernen Metropole. Tratt, der seine künstlerische Schaffenszeit in Frankfurt am Main verbrachte, verortet sein Geschehen auf den bekanntesten Platz der Frankfurter Innenstadt. Gelegen vor der barocken Hauptwache, die seit 1905 ein Café beherbergt, kulminiert hier bis heute das geschäftige Treiben der Stadt.
1924 entschloss sich Tratt vom nahe gelegenen Sindlingen nach Frankfurt zu ziehen und sich dort an der Städelschule einzuschreiben. 1926 wurde er in die Meisterklasse von Max Beckmann aufgenommen und sollte für die folgenden sieben Jahre dessen Schüler bleiben. Schon während seiner Ausbildungsjahre beteiligte sich Tratt an mehreren Ausstellungen – so wurden seine Werke unter anderem im Frankfurter Kunstverein, 1930 in der Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes in Stuttgart und 1931 in der Berliner Sezession gezeigt. Im Alter von 33 Jahren erkrankte Tratt folgenschwer an Tuberkulose – eine Diagnose, die die Hoffnung auf ein umfangreiches künstlerisches Werk zunichte machte. Um Heilung zu suchen, reiste Tratt noch einmal nach Davos, kehrte aber ohne sichtbaren gesundheitlichen Erfolg wieder nach Frankfurt zurück, wo er wenig später verstarb. Obgleich Tratts Schaffenszeit nicht mehr als zehn Jahre betrug, hinterließ er ein ausdrucksstarkes Oeuvre, das von neusachlichen Impulsen durchdrungen ist.
Ergebnis: 76.800 € (inkl. Aufgeld)
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