Los 105 aus unserer Herbstauktion am 28. Oktober 2023
o.T. (Im Wohnzimmer in Stampa). Kugelschreiber auf Papier. 1958. 29,4 x 21 cm, im Passepartout freigestellt. Unter Glas gerahmt.
Signiert u. datiert.
Provenienz: Privatsammlung Bern; 2000 Galerie Kornfeld, Bern, dort vom Vorbesitzer erworben. – Ausgestellt in: Eröffnungsausstellung. Zürich, Galerie Kornfeld, 1970/71.
“Seit jeher waren Bildhauerei, Malerei oder Zeichnung für mich Mittel, um mir über meine Sicht der äußeren Welt klar zu werden, vor allem über das Gesicht und die Gesamterscheinung des Menschen, oder, einfacher ausgedrückt, meiner Mitmenschen und besonders derer, die mir aus dem einen oder anderen Grund nahestehen. Die Wirklichkeit ist für mich nie ein Vorwand für das Schaffen von Kunstwerken gewesen, sondern die Kunst ein notwendiges Mittel, um mir ein wenig besser darüber klar zu werden, was ich sehe.” (Giacometti 1959, in: Entweder Objekte oder Poesie, sonst nichts. Frankfurt, Schirn Kunsthalle, 1998, S. 182)
Auch bei vorliegender Zeichnung scheint der Künstler vom Erforschen des Sichtbaren getrieben. Suchend bewegen sich die blauen Liniengeflechte über das Weiß des Papiers, tasten die vertrauten Formen des schon vom Vater, Giovanni, als Atelier genutzten elterlichen Wohnzimmers mit dem bemalten Kachelofen in Stampa ab. Am Tisch dem Maler gegenübersitzend die Gestalt der nähenden Mutter Annetta, erhellt durch die davor schwebende und den Raum bestimmende markante Deckenlampe, die sich auf vielen Zeichnungen Giacomettis und auch schon auf den Gemälden seines Vaters wiederfinden lässt.
Zwar gilt Giacometti gemeinhin als einer der bekanntesten Bildhauer des 20. Jahrhunderts, dennoch sah er sich nach seinem eigenen künstlerischen Grundverständnis in selbem Maße als Maler und Zeichner. Tatsächlich nimmt die Zeichnung in seinem Werk eine ganz besondere Stellung ein, da sich durch sie grundlegende ästhetische Aufschlüsse auch für die Bildhauerei und Malerei gewinnen lassen. Die Zeichnung war für Giacometti tägliche Übung, fast zwanghafte Praxis, auf seiner Suche nach der Wahrheit der Darstellung: “Nie begnügte er sich mit dem Sogenannten, dem Ungefähren. Er rückte den Dingen auf den Leib und belagerte sie mit unendlicher Geduld; manchmal hatte er Glück und konnte sie umstülpen wie einen Handschuh”, beobachtet 1960 Simone de Beauvoir über den Künstler (Katalog Frankfurt 1998, S. 256), während der Philosoph Isaku Yanaihara, der für Giacometti Modell saß, sich an dessen Manie erinnerte, mit einem Kugelschreiber, die Zeitungen vollzukritzeln, die er gerade las.
Bei seiner zeichnerischen Manie griff Giacometti dabei immer wieder auf die Darstellung von Vertrautem zurück: Das Atelier in Stampa, Freunde, Familie und Weggefährten waren sein bevorzugter Bildgegenstand, den er immer wieder neu erkundete. Nach einer mehrstündigen Modellsitzung mit seiner Frau Annette soll der Künstler einmal gesagt haben: “Es scheint mir, ich hätte dich noch nie gesehen!” (Franz Meyer, Alberto Giacometti. Eine Kunst existentieller Wirklichkeit, Stuttgart 1968, S. 221)
Schätzpreis: 20.000 €
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